Gemeinsam durch die Krise – Freiheit und Solidarität

Redebeitrag für die SPD Heidelberg
16. Mai 2020 15 Uhr, Heidelberg Uniplatz

Meinungsfreiheit heißt nicht Faktenfreiheit. 

Hallo liebe Hygienebewusste, liebe Abstand haltende und liebe Daheimgebliebene am Livestream!

Heute stehe ich als Tim Tugendhat, stellvertretender Vorsitzender der SPD Heidelberg vor euch. Aber ich stehe hier auch als Dr. Tim Tugendhat, Wissenschaftler und ehemals Forscher an der Uni Heidelberg. In beiden Funktionen möchte ich ein paar Dinge ansprechen, die mir persönlich sehr am Herzen liegen.

Ich fange mal als Sozialdemokrat an: 
Dass diese Veranstaltung eine gewisse Ironie birgt, ist uns im Vorstand der SPD Heidelberg nicht verborgen geblieben. Wir mussten auf der einen Seite die Sichtbarkeit der freiheitlich-demokratischen Kräfte im Hinblick auf die Verschwörungstheoretiker*innen-Demos abwägen gegen die Sicherheit aller und der Solidarität gegenüber der Gesellschaft sich nicht in großen Gruppen zusammenzufinden. Wir haben uns für einen Kompromiss entschlossen: Wir haben nicht an unsere Mitglieder appelliert, hier aufzutauchen, sondern stehen hier in einer kleinen Gruppe stellvertretend für die Heidelberger Sozialdemokratie.

Die Kritiker*innen, deren Demo wir hier mit unserer Veranstaltung stören, haben mit einer Sache gar nicht mal unrecht:
Wir müssen uns auseinandersetzen mit der Krisenpolitik unserer Regierung, ganz klar. Und hier gibt es einiges zu kritisieren, das gebe ich zu. Angefangen bei Staatshilfen an Unternehmen und Konzerne, welche eine Gewinnausschüttung für 2020 in Form von Dividenden oder Boni planen. Ich zähle hierbei die Kurzarbeit auch zur Staatshilfe, selbst wenn das VW-Management mir jetzt widersprechen würde und sagt, dass es eine Leistung ist, die man ja von der Arbeitslosenversicherung zahlt. Ja, aber hat nicht auch jede Versicherung in ihrer Police Klauseln, was die Auszahlungen im Schadensfall angeht? Scheinbar kennen viele in den Chefetagen deutscher Unternehmen das Wort “Selbstbeteiligung” nur von anderen.

Es wurde in den letzten Jahren gespart und gespart bei den Pflegeberufen, die Krankenhäuser werden auf Wirtschaftlichkeit ausgelegt und die Zwei-Klassen-Gesundheitsvorsorge dümpelt vor sich hin. Wir haben das unfassbare Glück, dass wir Menschen in unserer Gesellschaft haben, insbesondere in den Gesundheitsberufen, die sich – entschuldigt meine Ausdrucksweise – den Arsch aufreißen für ihre Mitmenschen. Dazu zähle ich auch die Damen und Herren in der blauen Uniform hinter mir, auch wenn sie etwas grimmig dreinschauen. Die Leistung müssen wir als Gesellschaft besser entlohnen, und zwar mit höheren Gehältern, besseren Arbeitsbedingungen und einer besseren Planungssicherheit, nicht mit Merci-Schokolade oder Blumen oder Applaus im Hinterhof. Diese Menschen arbeiten sich nicht erst seit März 2020 die Hände wund, sie tun es schon immer, ihr gesamtes Arbeitsleben lang. Dass wir ihnen im Alter eine würdige Rente finanzieren, sollte selbstverständlich sein. Das sage ich mit Blick auf die Verhandlungen zur Grundrente im Bundestag.

Wir haben Glück, dass die Gesundheitsbranche bei uns nicht komplett privatisiert ist. Wir müssen alles dafür tun, dass dies in Zukunft so bleibt. Die Bürgerversicherung muss kommen, damit wir auch in Zukunft ein funktionierendes Gesundheitssystem haben, das nicht auf kurzfristige Profite und Anlagesicherheit, sondern vielmehr auf die Patientinnen und Patienten ausgelegt ist.

Mich hat ein Mitarbeiter der Härtefallkommission der Uni Heidelberg vor ein paar Wochen angeschrieben, dass ihm die Studis wörtlich “die Bude einrennen” — viele konnten sich einfach nicht mehr die Wohnung oder den wöchentlichen Einkauf leisten. Inzwischen ist hier ein bisschen Bewegung in die Sache gekommen, aber man sieht, dass das föderale System auch Grenzen hat. Wer ist zuständig? Die Länder, die die Universitäten betreiben oder der Bund, der zum Beispiel für das BAföG zuständig ist?
Wir merken: Das System, das wir haben, funktioniert nur so gut, wie die Menschen, die es von innen verwalten, miteinander kooperieren. 

Nun zu den Schreihälsen, die Angst haben, dass man ihnen ihre Freiheiten einschränkt:
Ihr dürft demonstrieren. Ihr dürft eure Meinung äußern.
Wir ignorieren eure Meinungen nicht, weil wir blind irgendwelchen Anweisungen von Bill Gates und Geheimgesellschaften folgen.
Wir ignorieren eure Meinungen, weil sie vollkommener Unfug sind. 

Meine Lieben hier am Uniplatz, ihr wisst, genauso wie ich: 
Meinungsfreiheit heißt nicht Faktenfreiheit. 
Meinungsfreiheit heißt nicht, dass jede Meinung gleichbehandelt werden muss: Sonst müsste im Erdkundeunterricht neben dem Globus noch eine flache Erde gezeigt werden.
Meinungsfreiheit von denen heißt nicht, dass wir ihre Meinungsäußerung nicht attackieren dürfen. 
Meinungsfreiheit heißt nicht, dass man jeder Spinnerin und jedem Spinner Gehör schenken muss! 

Schaut nach Ungarn, schaut nach Polen! Dort werden Freiheiten beschränkt, dort wird, im Herzen Europas, der Geist des Autoritären geweckt. Wir müssen hier unseren europäischen Brüdern und Schwestern hier die Hand reichen — natürlich nur metaphorisch, wegen der Hygiene.

Jetzt möchte ich noch kurz als Wissenschaftler sprechen.
Das sage ich jetzt nicht als SPDler, aber ich bin persönlich heilfroh, dass mit unserer Kanzlerin eine Person im Amt ist, die über Wissenschafts- und Faktenkompetenz verfügt. Was es heißt, beratungsresistent zu sein, sieht man in Großbritannien und in den USA; und dass autoritäre Regime nicht besser mit der Krise umgehen als liberale Demokratien, sieht man in Russland und der Türkei.

Diejenigen, die gegen Umweltschutz, die gegen Impfungen, die gegen 5G-Funkmasten, die gegen Schulmedizin protestieren, verstehen nicht, was Wissenschaft heißt.
Wissenschaft ist kein Dogma, Wissenschaft ist frei.
Sie ist ein Prozess der Erkenntnis; sie sucht ihre eigenen Fehler, sie irrt sich und verbessert sich selbst. 
Wissenschaft basiert auf Fakten und nachweislichen und nachvollziehbaren Ergebnissen. 
Was vielen Angst macht, ist, dass sich die Wissenschaft nicht anmaßt, hundertprozentige Sicherheiten abzugeben. Das ist verständlich. Denn: Wissenschaft basiert auf gesunder Skepsis und auf Misstrauen.
Und genau deshalb sage ich als Wissenschaftler: Mundschutz statt Aluhut.

Solidarität aber basiert auf Vertrauen. Solidarität ist das, was diese Gesellschaft am Laufen hält. Nicht nur seit der Krise, sondern schon immer.

Meine Lieben, ich danke euch fürs Zuhören. Seid solidarisch und geht nach der Veranstaltung heim. Habt Geduld, der nächste Sommer kommt bestimmt, ich zitiere noch kurz die Queen: “We will meet again”.